Es sollte andersrum sein

Freitags treffe ich an der Bushaltestelle oft eine betagte Dame. Sie ist nett und ich mag sie, dennoch ist sie sehr pessimistisch veranlagt und hat immer etwas zu wehklagen und zu jammern. Das Wetter, die Jahreszeiten, Bauarbeiter, Handwerker – sie findet immer etwas um sich aufzuregen.

Am vergangenen Freitag traf ich sie wieder und sie fing mit ihrer üblichen Litanei an. Ich reagierte nicht darauf, das tue ich nie, weil es sinnlos wäre. Sie hört für gewöhnlich nach einigen Minuten auch immer auf. Manchmal – so wie am Freitag – sagt sie dann etwas beinahe Philosophisches. Sie sagte “Früher wollte ich so viel tun und hatte kein Geld und keine Zeit. Jetzt wo ich alt bin, habe ich das Geld, aber keine Energie mehr etwas zu tun. Es läuft verkehrt. Man sollte genug Geld und Zeit haben wenn man jung ist”.

Ich kann sie mir gut als junge Frau vorstellen. Vermutlich war sie damals recht hübsch. Ich stelle mir vor, wie sie die Welt erkundet hätte, wie sie vieles ausprobiert hätte, wie sie Fassetten ihrer selbst in verschiedenen Tätigkeiten und Umfeldern entdeckt hätte. Doch das konnte sie sehr wahrscheinlich nicht, denn damals war Nachkriegszeit. Die meisten Leute lebten nicht in Wohlstand. Sie musste sich  ziemlich sicher ihren heutigen Lebensstandard hart erarbeiten. Keiner fragte nach ihren Träumen oder Befindlichkeiten. Es war einfach so und es gab keinen anderen Weg.

Heute ist sie alt und einsam und die sprichwörtliche Mücke an der Wand stört sie. Wurde sie so, weil sie nicht das Leben leben konnte, was sie glücklich gemacht hätte? Ich weiss nicht, ob sie unglücklich war und ob sie ein erfülltes Leben hatte und erst jetzt im hohen Alter verbittert und einsam wurde. ich kann nur mutmaßen. So gut kennen wir uns nicht und sie hat selten aus ihrer Vergangenheit erzählt. Ich vermute aber, dass solch eine pessimistisch geprägte Weltanschauung nicht von heute auf morgen entsteht.

Ich beobachte das öfters. Nicht nur bei der alten Frau, sondern im privaten und beruflichen Umfeld. Überall begegnen mir Menschen, die einen griesgrämigen verbitterten Gesamteindruck machen. Die missmutige Mimik steht ihnen regelrecht ins Gesicht geschrieben. Eine Frau, die ich ab und zu sehe, sieht so vergrämt aus, dass sie mir leid tut. Ich bedauere sie, weil sie so in sich gefangen ist. In ihrer Missgunst und ihrer Gram. Ein bemitleidenswertes Wesen. Ich wünschte, sie könnte sich ändern, glaube es aber nicht. Sie allein hat das in der Hand, doch sie will sich aufregen, sie will anderen Menschen gehörig auf den Zeiger gehen. Sie genießt es, dass andere Alpträume von ihr haben. Sie zehrt davon, andere in die Pfanne zu hauen. Glücklich wird sie dadurch nie werden, doch sie klammert sich an diese “Erhebung” über andere. Sie hat den Spitznamen Cerberus, der Höllenhund. Eines Tages wird sie als Greisin einsam sterben und keiner wird ihr eine Träne nach weinen. Vermutlich wird sie noch viele Inkarnationen benötigen, um zu erkennen, dass diese Art von scheinbarer Macht nicht glücklich macht.

Ist die Hölle der Ort, wo sich all diese verbiesterten Menschen nach ihrem Ableben treffen, bevor sie wieder inkarnieren? Ich denke schon.

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