Ich treffe seit circa zwei Jahren immer wieder einen Obdachlosen. Der grauhaarige Mann ist stets unaufdringlich, höflich und lächelt einen immer an, wenn man ihm etwas gibt. Am Freitag traf ich ihn wieder und – wie immer – bedankte er sich für das Kleingeld, das ich ihm gab.
Zuhause angekommen ging er mir nicht mehr aus dem Kopf. Draussen stürmte es und es fing auch noch an zu nieseln. Mir lies es keine Ruhe, wo er wohl jetzt Unterschlupf finden würde, also fuhr ich nochmals in die Stadt, fand ihn jedoch nicht mehr.
Samstagmorgens machte ich mich wieder auf die Suche und wurde gleich am ersten Platz fündig. Der betagte Mann saß auf dem Boden vor einem Torbogen. Ich gab ihm etwas mehr Geld wie tags zuvor und fragte, ob ich sonst noch etwas für ihn tun könnte. Er entgegnete – nach kurzen Zögern – dass er zurecht käme.
Ich erzählte die Geschichte in meinem Freundeskreis und es gab Stimmen wie “Gib ihm was, das freut ihn sicher sehr” und “Hilfe darf auch nicht aufgedrängt werden”. Das ist sicher richtig, aber irgendwie fühlt es sich trotzdem nicht gut für mich an. Ich ringe da gerade mit mir selbst.
Was könnte man tun? Ihn bei uns aufnehmen möchte ich offen gesagt nicht. Ich weiss, das ist nicht gerade altruistisch, aber ich möchte es echt nicht. Ich möchte unser Zuhause für meine Familie und mich alleine haben und sie mit niemand Fremden teilen. Das ist mit Sicherheit egoistisch, aber ich möchte das nicht ändern.
Müsste ich ihn gar nicht bei uns aufnehmen? Gibt es Notunterkünfte in der Stadt und Streetwalker? Ich glaube nicht. Google hat zumindest nichts ausgespuckt. Würde es schon reichen, wenn man ihn zu Ämtern begleiten würde? Dann hätte er mir das sagen müssen, oder? Würde ich an seiner Stelle eine mir fremde Person um Hilfe bitten? Vermutlich erst, wenn ich verzweifelt genug wäre, aber ich kann mich in eine solche Situation schlecht hinein versetzen. Ich hatte immer meine Familie und Freunde und kann mir nicht vorstellen, wie es ist, alleine und mittellos ohne Dach über dem Kopf zu leben.
Vielleicht hatte er schon früh niemand mehr und war auf sich gestellt und hat es nicht geschafft oder ist abgestürzt. Er sieht jedoch weder aus wie ein Drogenabhängiger noch wie ein Alkoholiker. Er sieht “clean” aus. Wer weiss, was die Umstände waren, die zu seinem jetzigen Leben geführt haben. Vielleicht wäre es mir auch so gegangen, wenn ich mein gesamtes soziales Netz nicht gehabt hätte. Es sagt sich leicht “wie kann es so weit kommen”, wenn man immer Rückhalt und Unterstützung hätte, wenn man sie benötigen würde.
Noch immer habe ich den Augenblick präsent, wie seine Augen kurz leuchteten, als ich ihn fragte, ob ich ihm irgendwie helfen kann.Doch leider erlosch das Leuchten sofort wieder und wurde von Hoffnungslosigkeit ersetzt.
Ich habe mir vorgenommen,immer mit ihm zu reden, wenn ich ihn sehe. Vielleicht baut sich so gegenseitiges Vertrauen auf und ich kann ihm eines Tages auf die eine oder andere Weise behilflich sein, wenn er das möchte und er mir genug vertraut, mich um Hilfe zu bitten.